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Den Absprung in die Weite wagen

Fürchte dich nicht, denn du wirst gehalten!
Datum:
8. Nov. 2025
20251108 Peter Klauer Fallschirm
In über 1500 m checkt der Lehrer noch einmal die Ausrüstung des Schülers, er geht mit ihm mental den Ablauf des Fallschirmsprunges durch. Der Karabiner ist in der Sicherungshalterung eingehakt, die Aufziehleine sicher verstaut, die Tür geht auf. Der Fahrtwind weht um die Nase. Ein Blick in die Tiefe. Er zögert. Er fragt sich, was mache ich gerade. Ein Blick zum Sprunglehrer, ein aufmunternder Daumen hoch. Dann geht es los. Im Vertrauen auf die technische Zuverlässigkeit des Fallschirmsystems und das erlernte Wissen tastet er sich vorwärts auf das Trittbrett des Flugzeuges, einen Schritt zurücktreten, loslassen und dann … die Erfahrung von grenzenloser Weite. Manch einer staunt am Ende über den eigenen Mut und sein Vertrauen in das doppelte Netz, das ihn hält: die Sicherheitstechnik und Menschen, die ihre Erfahrung weitergeben und Mut machen.
 
Fürchte dich nicht, denn du wirst gehalten, das ist auch die Kernaussage eines alten biblischen Textes: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst. Ich habe dich beim Namen gerufen, du bist mein! Es ist ein Wort, das seit über 3000 Jahren Menschen tröstet und ermutigt. Ein Wort, das dem Volk Israel und jedem Einzelnen persönlich Gottes unsichtbare Nähe zusagt. Ein Wort, mit dem der Prophet Jesaja das Volk Israel nach mehr als dreißig Jahren im babylonischen Exil getröstet und ihnen zugesagt, dass Gott sie nach Jerusalem zurückführen wird. Lange hatten die Israeliten das Leben fern der Heimat als Strafe Gottes verstanden. Durch Jesajas Wort keimt Hoffnung auf, dass sie als freie Menschen zurückkehren werden. Seine Worte sagen ihnen: Gott ist es, der wirkt. Er ist wohlgesonnen: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich beim Namen gerufen; du bist mein! Den Israeliten wird dieses Gotteswort zu einem Hoffnungswort gegen die herrschenden Verhältnisse und die herrschende Furcht. Es ist ein Wort der Freiheit – in schwierigen Lagen erinnern sie an Gott, der sein Volk schon einmal befreit hat.
Auch wir kennen Furcht. Wir fürchten uns vor Krankheit und Leid, vor dem Verlust der Arbeitsstelle, vor Einsamkeit, vor Streit und Zerrüttung, vor dem Krieg, der vor unserer Haustür tobt. Junge Menschen haben angesichts von Staatsverschuldung, Wehrdienstdebatte und Klimawandel Zukunftsängste. Furcht an sich ist nichts Schlimmes. Sie ist überlebensnotwendig. Sie kann sich aber auf den ganzen Menschen ausdehnen, kann sein Denken und Handeln besetzen, so dass er sich getrieben vorkommt und nicht mehr weiß, was er oder sie tun oder lassen soll. In meinem Sport Fallschirmspringen mache ich Grenzerfahrungen. Er konfrontiert mich mit meinen Ängsten. Ich übe mich im Vertrauen ein und setze auf den Teamgeist, um gemeinsam Herausforderungen zu bewältigen.
 
In meinem Glauben ist es ähnlich. Mein Glaube ist für mich meine Aufziehleine, die mir den nötigen Abstand zur Furcht gibt und den Mut für den nächsten Schritt. Mein Glaube weitet meinen Blick weg von einer mich überfordernden Selbstbezogenheit hin zu einer neuen Gelassenheit. Ich nehme wahr, auf welchem Grund ich stehe und wo die Menschen stehen, die ich brauche und die mich brauchen! Schauen wir etwas gelassener in die Zukunft – vielleicht nicht ganz angstfrei, aber mit Zuversicht - und mit dem Gefühl von großer Weite.
 
Peter Klauer, Dekan im Pastoralen Raum Bernkastel-Kues und Sprunglehrer beim Fallschirmsportclub Trier